Die Strafprozessordung sah in der inzwischen nicht mehr gültigen Fassung vom 5. Oktober 2007 Folgendes vor:
Art. 221 Voraussetzungen
1 Untersuchungs- und Sicherheitshaft sind nur zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie:
(…)
c. durch schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat.
(…)
Das Bundesgericht fasste in seinem Urteil vom 5. März 2024 (7B_155/2024) die bisherige Rechtsprechung zu dieser Bestimmung zusammen:
3.1. Nach der bisherigen Rechtsprechung zu aArt. 221 Abs. 1 lit. c StPO sind drei Elemente für das Vorliegen von Wiederholungsgefahr konstitutiv: Erstens muss grundsätzlich das Vortatenerfordernis erfüllt sein und es müssen schwere Vergehen oder Verbrechen drohen. Zweitens muss hierdurch die Sicherheit anderer erheblich gefährdet sein. Drittens muss die Tatwiederholung ernsthaft zu befürchten sein, was anhand einer Rückfallprognose zu beurteilen ist (BGE 146 IV 136 E. 2.2; 143 IV 9 E. 2.5; je mit Hinweisen).
Per 1. Januar 2024 trat eine neue Fassung von Abs. 1 Bst. c und ein neuer Absatz 1bis in Kraft:
Art. 221 Voraussetzungen
(…)
c. durch Verbrechen oder schwere Vergehen die Sicherheit anderer unmittelbar erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat.
1bis Untersuchungs- und Sicherheitshaft sind ausnahmsweise zulässig, wenn:
a. die beschuldigte Person dringend verdächtig ist, durch ein Verbrechen oder ein schweres Vergehen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt zu haben; und
b. die ernsthafte und unmittelbare Gefahr besteht, die beschuldigte Person werde ein gleichartiges, schweres Verbrechen verüben.
In der Botschaft vom 28. August 2019 äusserte sich der Bundesrat dazu folgendermassen:
Art. 221 Abs. 1 Bst. c, Abs. 1bis und Abs. 2
Nach dem Wortlaut des geltenden Rechts setzen Untersuchungs- und Sicherheitshaft wegen Wiederholungsgefahr neben einer erheblichen Gefährdung der Sicherheit anderer durch schwere Verbrechen oder Vergehen voraus, dass die beschuldigte Person früher bereits «gleichartige Straftaten» verübt hat.
Das Bundesgericht dagegen lässt Haft wegen Wiederholungsgefahr ausnahmsweise auch ohne frühere gleichartige Straftaten zu mit der Begründung, nur so lasse sich der ernsthaften und konkreten Gefahr eines schweren Verbrechens begegnen. Während ein Teil der Lehre diese Rechtsprechung als unzulässige Abweichung vom Gesetzeswortlaut scharf kritisiert, wird sie von anderen als «sachlich und kriminalpolitisch dringend geboten» beurteilt.
(…)
Beim Haftgrund der Wiederholungsgefahr handelt es sich in erster Linie um Präventivhaft. Präventivhaft ist eine sichernde, polizeiliche Zwangsmassnahme und stellt somit einen Fremdkörper innerhalb des Strafprozessrechts dar. Sie lässt sich nur schwer mit der Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1 BV) vereinbaren und hat einen schweren Eingriff in die persönliche Freiheit der betroffenen Person zur Folge. Bei der Anwendung dieses Haftgrundes ist deshalb Zurückhaltung geboten; er darf nur im Rahmen einer restriktiven Auslegung der spezifischen Voraussetzungen zur Anwendung kommen.
Der Entwurf schlägt aufgrund des oben Gesagten eine differenzierte Regelung vor:
In Buchstabe c von Absatz 1 soll der Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäss geltendem Recht grundsätzlich beibehalten werden. Das heisst, es werden insbesondere nach wie vor mindestens zwei früher verübte gleichartige Straftaten als sogenannte «Vortaten» vorausgesetzt. Der Begriff «verübt» setzt voraus, dass diese Straftaten rechtskräftig beurteilt sein müssen. Denn diese Vortaten sind der einzige gesicherte Anhaltspunkt im Hinblick auf die zu erstellende Legalprognose.
Mit der neu eingefügten Formulierung «unmittelbar» soll verdeutlicht werden (vgl. auch Abs. 1bis und Abs. 2), dass die von der beschuldigten Person ausgehende Bedrohung akut sein muss, die schweren Straftaten in naher Zukunft drohen und deshalb die Haft mit grosser Dringlichkeit angeordnet werden muss; denn nur dann erscheint Präventivhaft auch gerechtfertigt.
(…)
Neu schlägt der Entwurf in Absatz 1bis – ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesgerichts – einen Haftgrund wegen qualifizierter Wiederholungsgefahr vor. Indem dieser Haftgrund in einem separaten Absatz geregelt wird, soll sein Ausnahmecharakter und seine systematische Nähe zum Haftgrund der Ausführungsgefahr (Art. 221 Abs. 2 StPO) ausgedrückt werden.
Der Haftgrund verzichtet zwar gänzlich auf das Erfordernis der Vortaten, er soll aber nur unter folgenden restriktiven Voraussetzungen zur Anwendung gelangen:
Der Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr setzt zum einen voraus, dass die beschuldigte Person dringend verdächtig ist, durch ein Verbrechen oder ein schweres Vergehen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt zu haben (Bst. a). Zum anderen setzt er voraus, dass die ernsthafte und unmittelbare Gefahr besteht, die beschuldigte Person werde ein gleichartiges, schweres Verbrechen verüben (Bst. b).
Weil auf jegliche Vortaten (als einziger gesicherter Anhaltspunkt im Hinblick auf die Rückfallprognose) verzichtet wird, erscheint es gerechtfertigt, die in Verdacht stehenden Straftaten auf Verbrechen und schwere Vergehen gegen hochwertige Rechtsgüter (z. B. Leib und Leben oder sexuelle Integrität) einzuschränken. Das zusätzliche Erfordernis der «schweren Beeinträchtigung» soll sicherstellen, dass nicht nur der abstrakte Strafrahmen der Straftaten, sondern auch die Umstände des Einzelfalles bei der Haftprüfung berücksichtigt werden (Bst. a). Diese Beschränkungen sind ausserdem erforderlich mit Blick auf die drohenden gleichartigen schweren Verbrechen. Denn nur wenn von der beschuldigten Person eine schwere Gefahr für die Rechtsgüter potentieller Opfer ausgeht, erscheint die Präventivhaft (wie auch beim Haftgrund der Ausführungsgefahr) gerechtfertigt. Schliesslich soll mit der Beschränkung ausgeschlossen werden, dass dieser Haftgrund bei rein materiellen Schädigungen oder sozialschädlichen Verhaltensweisen zur Anwendung gelangt.
(…)
Mit der gesetzlichen Neufassung bzw. Ergänzung wird somit im Wesentlichen die bisherige Praxis kodifiziert.
Das Bundesgericht führte im Urteil vom 5. März 2024 (7B_155/2024) zu den einzelnen Voraussetzungen Folgendes aus:
Sicherheitsrelevanz (drohende schwere Delikte):
3.1.1. Bei der Beurteilung der Schwere der drohenden Delikte sind neben der abstrakten Strafdrohung gemäss Gesetz insbesondere auch das betroffene Rechtsgut und der Kontext, namentlich die konkret vom Beschuldigten ausgehende Gefährlichkeit bzw. das bei ihm vorhandene Gewaltpotenzial, einzubeziehen. Die erhebliche Gefährdung der Sicherheit anderer durch drohende Verbrechen oder schwere Vergehen kann sich grundsätzlich auf Rechtsgüter jeder Art beziehen. Im Vordergrund stehen Delikte gegen die körperliche und sexuelle Integrität. (BGE 146 IV 136 E. 2.2-2.5; 143 IV 9 E. 2.6-2.7; je mit Hinweisen).
(…)
3.7. Weiter macht der Beschwerdeführer geltend, es fehle im vorliegenden Fall an einer unmittelbaren Sicherheitsgefährdung durch die drohenden neuen Delikte. Bei der „Unmittelbarkeit“ handle es sich um ein „neues gesetzliches Kriterium“.
Auch dieser Argumentation ist nicht zu folgen. Die in Art. 221 Abs. 1bis lit. a StPO genannten Verbrechen und schweren Vergehen, mit denen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt wird, werden vom Gesetzgeber bereits de lege als unmittelbar sicherheitsgefährdend eingestuft. Im Gegensatz zur einfachen Wiederholungsgefahr (nArt. 221 Abs. 1 lit. c StPO) verlangt der Wortlaut von Art. 221 Abs. 1bis lit. a StPO denn auch keine zusätzliche „unmittelbare Sicherheitsgefährdung“. Zum Bestehen einer „ernsthaften und unmittelbaren Gefahr“ von neuen Schwerverbrechen im Rahmen der richterlichen Prognosestellung (Art. 221 Abs. 1bis lit. b StPO) ist auf die obigen Erwägungen (E. 3.6) zu verweisen.
Rückfallprognose:
3.1.2. Massgebende Kriterien bei der Beurteilung der Rückfallprognose sind nach der Praxis des Bundesgerichtes insbesondere die Häufigkeit und Intensität der fraglichen Delikte. Bei dieser Bewertung sind allfällige Aggravationstendenzen, wie eine zunehmende Eskalation respektive Gewaltintensität oder eine raschere Kadenz der Taten, zu berücksichtigen. Zu würdigen sind des Weiteren die persönlichen Verhältnisse der beschuldigten Person. Liegt bereits ein psychiatrisches Gutachten vor, ist dieses ebenfalls in die Beurteilung miteinzubeziehen. In der Regel erscheint die Gefährdung der Sicherheit anderer umso höher, je schwerer die drohende Tat wiegt. Betreffend die Anforderungen an die Rückfallgefahr gilt hingegen eine umgekehrte Proportionalität. Dies bedeutet: Je schwerer die drohenden Taten sind und je höher die Gefährdung der Sicherheit anderer ist, desto geringere Anforderungen sind an die Rückfallgefahr zu stellen. Liegen die Tatschwere und die Sicherheitsrelevanz am oberen Ende der Skala, so ist die Messlatte zur Annahme einer rechtserheblichen Rückfallgefahr tiefer anzusetzen. Zugleich ist daran festzuhalten, dass der Haftgrund der Wiederholungsgefahr restriktiv zu handhaben ist. Eine negative, d.h. eine ungünstige Rückfallprognose ist zur Annahme von Wiederholungsgefahr notwendig, grundsätzlich aber auch ausreichend (BGE 146 IV 136 E. 2.2; 143 IV 9 E. 2.8-2.10 mit Hinweisen).
(…)
3.6.2. (…)
Art. 221 Abs. 1bis lit. b StPO verlangt sodann als Prognoseelement die ernsthafte und unmittelbare Gefahr, dass die beschuldigte Person ein gleichartiges „schweres Verbrechen“ verüben werde. Zwar wurde in der bisherigen Bundesgerichtspraxis nicht wörtlich vom Erfordernis einer „ernsthaften und unmittelbaren“ Gefahr (von neuen Schwerverbrechen) gesprochen. Es bestand aber in diesem Sinne schon altrechtlich eine restriktive Haftpraxis, indem das Bundesgericht ausdrücklich betonte, qualifizierte Wiederholungsgefahr komme nur in Frage, wenn das Risiko von neuen Schwerverbrechen als „untragbar hoch“ erschiene (BGE 143 IV 9 E. 2.3.1; 137 IV 13 E. 3 f.). Bei der konkreten Prognosestellung wird im Übrigen weiterhin dem Umstand Rechnung zu tragen sein, dass bei qualifizierter Wiederholungsgefahr Schwerverbrechen drohen. Bei einfacher und qualifizierter Wiederholungsgefahr geht die Bundesgerichtspraxis von einer sogenannten „umgekehrten Proportionalität“ aus zwischen Deliktsschwere und Eintretenswahrscheinlichkeit (BGE 146 IV 136 E. 2.2; 143 IV 9 E. 2.8-2.10; vgl. François Chaix, Code de procédure pénale suisse, Commentaire Romand, 2. Aufl. Basel 2019, Art. 221 N. 24; Forster, BSK, Art. 221 N. 15d; Frei/Zuberbühler Elsässer, a.a.O, Art. 221 N. 38). Der Vorinstanz ist darin zuzustimmen, dass bei ernsthaft drohenden schweren Gewaltverbrechen auch nach neuem Recht keine sehr hohe Eintretenswahrscheinlichkeit verlangt werden kann. Die richterliche Prognosebeurteilung stützt sich dabei auf die konkreten Umstände des Einzelfalles (BGE 146 IV 136 E. 2.2-2.5; 143 IV 9 E. 2.6-2.7; vgl. Forster, BSK, Art. 221 N. 10b, 14b, 15d; Frei/Zuberbühler Elsässer, a.a.O., Art. 221 N. 39-39a; Jositsch, a.a.O., Art. 221 N. 13a).
3.6.3. Dass die Vorinstanz im vorliegenden Fall eine ausreichend erhebliche (ernsthafte und unmittelbare) Wahrscheinlichkeit für neue schwere Gewaltverbrechen bejaht, hält vor dem Bundesrecht stand. Dabei durfte das Obergericht namentlich der im psychiatrischen Gutachten festgestellten „mittelgradigen“ Rückfallgefahr Rechnung tragen, der gutachterlich diagnostizierten psychischen Auffälligkeit und Unberechenbarkeit des Beschwerdeführers, der besonderen (gewaltexzessiven) Brutalität des von ihm unbestrittenermassen verübten Tötungsdeliktes, seiner auffälligen Vorliebe für Waffen, insbesondere Messer, Schlagstöcke und Elektroschockgeräte, der von ihm in Internet-Chats geäusserten weiteren Gewaltbereitschaft, seiner Affinität für sadistische Darstellungen von brutaler Gewalt oder auch den vom Obergericht dargelegten Anzeichen für eine massive Suchtmittelproblematik des Beschwerdeführers.
Das Bundesgericht führte diesbezüglich im Urteil vom 24. Juli 2023 (7B_188/2023) betreffend Brian (aka Carlos) Folgendes aus:
10.3.1. Die Rückfallprognose (dritte Voraussetzung für die Annahme von Wiederholungsgefahr) muss ungünstig sein. Massgebende Kriterien hiefür sind nach der Praxis insbesondere die Häufigkeit und Intensität der fraglichen Delikte. Weiter sind allfällige Aggravationstendenzen, wie eine zunehmende Eskalation respektive Gewaltintensität oder eine raschere Kadenz der Taten zu berücksichtigen, ebenso die persönlichen Verhältnisse der beschuldigten Person, ihr psychischer Zustand, ihre Unberechenbarkeit oder Aggressivität. Liegt bereits ein psychiatrisches Gutachten vor, ist dieses in die Beurteilung miteinzubeziehen. Je schwerer die drohenden Taten sind und je höher die Gefährdung der Sicherheit anderer ist, desto geringere Anforderungen sind an die Rückfallgefahr zu stellen (BGE 143 IV 9 E. 2.8 f.; Urteil 1B_293/2023 vom 19. Juni 2023 E. 3.1; je mit Hinweisen). Eine negative, d.h. eine ungünstige Rückfallprognose zur Annahme von Wiederholungsgefahr ist notwendig, grundsätzlich aber auch ausreichend (BGE 143 IV 9 E. 2.10; Urteil 1B_189/2023 vom 28. April 2023 E. 4.1; je mit Hinweisen). Die rein hypothetische Möglichkeit der Verübung weiterer Delikte sowie die Wahrscheinlichkeit, dass nur geringfügige Straftaten verübt werden, reichen dagegen nicht aus (BGE 143 IV 9 E. 2.2 mit Hinweisen).
Vortatenerfordernis:
3.1.3. Was das Vortatenerfordernis betrifft, können die bereits begangenen Straftaten sich zunächst aus rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahren ergeben. Sie können jedoch auch Gegenstand eines noch hängigen Strafverfahrens bilden, sofern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass die beschuldigte Person solche Straftaten begangen hat. Der haftrechtliche Nachweis, dass die beschuldigte Person eine Straftat verübt hat, gilt bei einem glaubhaften Geständnis oder einer erdrückenden Beweislage als erbracht (BGE 143 IV 9 E. 2.3.1; 137 IV 84 E. 3.2 mit Hinweisen). Die Gefährlichkeit der beschuldigten Person lässt sich in diesem Sinne sowohl aufgrund von bereits abgeurteilten Vortaten beurteilen, als auch im Gesamtkontext der ihr neu vorgeworfenen Delikte, sofern mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit erstellt ist, dass sie diese begangen hat (BGE 143 IV 9 E. 2.6).
Qualifizierte Wiederholungsgefahr (ohne Vordatenerfordernis):
3.1.4. Erweisen sich die Risiken als untragbar hoch (sogenannte „qualifizierte Wiederholungsgefahr“), kann vom Vortatenerfordernis (im Sinne einer rechtskräftigen Verurteilung oder einer erdrückenden Beweislage für das untersuchte Delikt) sogar vollständig abgesehen werden. Aufgrund einer systematisch-teleologischen Auslegung von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO ist das Bundesgericht zum Schluss gekommen, es habe nicht in der Absicht des Gesetzgebers gelegen, mögliche Opfer von schweren Gewaltdelikten einem derart hohen Rückfallrisiko auszusetzen (BGE 143 IV 9 E. 2.3.1; 137 IV 13 E. 3 f.).
3.2. An den Erfordernissen drohender Verbrechen oder schwerer Vergehen und einer erheblichen unmittelbaren Sicherheitsgefährdung sowie am Vortatenerfordernis wurde bezüglich der einfachen Wiederholungsgefahr auch in der erfolgten Revision (nArt. 221 Abs. 1 lit. c StPO) grundsätzlich festgehalten. Der Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr (ohne Vortatenerfordernis, vgl. E. 3.1.4 hiervor) wurde im neuen, per 1. Januar 2024 in Kraft gesetzten Art. 221 Abs. 1bis StPO ausdrücklich geregelt (AS 2023 468; BBl 2022 1560, 6 f.).
Gemäss Art. 221 Abs. 1bis StPO sind Untersuchungs- und Sicherheitshaft ausnahmsweise zulässig, wenn die beschuldigte Person dringend verdächtig ist, durch ein Verbrechen oder ein schweres Vergehen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt zu haben (lit. a), und die ernsthafte und unmittelbare Gefahr besteht, die beschuldigte Person werde ein gleichartiges, schweres Verbrechen verüben (lit. b).
Bereits in seiner altrechtlichen Praxis ab 2011 ist das Bundesgericht zum Schluss gekommen, dass es qualifizierte Haftfälle gibt, bei denen vom gesetzlichen Vortatenerfordernis der einfachen Wiederholungsgefahr (aArt. 221 Abs. 1 lit. c StPO) abzusehen ist. Schon im März 2011 hat es in BGE 137 IV 13 auf eine gravierende Gesetzeslücke hingewiesen, nämlich auf das Fehlen eines Haftgrundes der „qualifizierten“ Wiederholungsgefahr bei akut drohenden Schwerverbrechen ohne einschlägige Vorstrafen. Das Bundesgericht hat damals ausdrücklich erwogen, dass es vernünftigerweise nicht in der Absicht der Legislative gelegen haben könne, bei mutmasslich bereits verübten und erneut akut drohenden schweren Gewalt- oder Sexualverbrechen auf die Möglichkeit einer strafprozessualen Inhaftierung zu verzichten, nur weil der Beschuldigte nicht bereits früher wegen Schwerstverbrechen verurteilt wurde (Praxis bestätigt in BGE 143 IV 9 E. 2.3.1).
In der Fachliteratur ist seit 2012 darauf hingewiesen worden, dass eine solche Abweichung vom Gesetzeswortlaut vor dem Hintergrund des Legalitätsprinzips (Art. 36 Abs. 1 BV) allerdings rechtsstaatlich problematisch war (vgl. Bommer/Kaufmann, Die strafrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahr 2011, ZBJV 2015, S. 873 ff., 909 f.; Marc Forster, Das Haftrecht der neuen StPO auf dem Prüfstand der Praxis, ZStrR 2012 S. 334 ff., 341 f.; Gfeller/Bigler/Bonin, Untersuchungshaft, Ein Leitfaden für die Praxis, Zürich 2017, Rz. 453-457). Ebenso wurde in der Doktrin bereits früh erwähnt, dass diverse kantonale Strafprozessgesetze den Haftgrund der „qualifizierten“ Wiederholungsgefahr noch ausdrücklich geregelt hatten, dieser dann aber beim Erlass der Eidgenössischen StPO „vergessen“ gegangen war (vgl. Forster, ZStrR 2012, S. 341 f.). Im Dezember 2012 reichten daraufhin Isabelle Moret (Motion 12.4077) und Daniel Jositsch (Initiative 12.495) entsprechende parlamentarische Vorstösse ein.
Im Parlament ist dem neu legiferierten Haftgrund von Art. 221 Abs. 1bis StPO kein Widerstand erwachsen (…).
Verhältnismässigkeit:
3.3.1. Strafprozessuale Haft darf nur als „ultima ratio“ angeordnet oder aufrechterhalten werden. Wo sie durch weniger einschneidende Massnahmen ersetzt werden kann, muss von ihrer Anordnung oder Fortdauer abgesehen und an ihrer Stelle eine solche Ersatzmassnahme verfügt werden (Art. 212 Abs. 2 lit. c i.V.m. Art. 237 f. StPO; vgl. BGE 145 IV 503 E. 3.1; 142 IV 367 E. 2.1; 140 IV 74 E. 2.2).
Die rechtliche Prüfung der Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies meist eine Pro-forma-Prüfung ist, denn das Zwangsmassnahmengericht winkt die Anträge der Staatsanwaltschaft nahezu vollständig durch. Das Interesse der öffentlichen Sicherheit wird regelmässig höher als die Freiheitsbeschränkung des Beschuldigten gewichtet.