Gefährdungsmeldung und Anwaltsgeheimnis

Gemäss Zivilgesetzbuch gilt Folgendes:

Art. 314c ZGB
C. Kindesschutz / VI. Verfahren / 5. Melderechte
1 Jede Person kann der Kindesschutzbehörde Meldung erstatten, wenn die körperliche, psychische oder sexuelle Integrität eines Kindes gefährdet erscheint.
2 Liegt eine Meldung im Interesse des Kindes, so sind auch Personen meldeberechtigt, die dem Berufsgeheimnis nach dem Strafgesetzbuch unterstehen. Diese Bestimmung gilt nicht für die nach dem Strafgesetzbuch an das Berufsgeheimnis gebundenen Hilfspersonen.

Bereits in meinem Beitrag „Der Anwalt als Informant der KESB?“ vom 1. Februar 2019 äusserte sich mich kritisch zu dieser Bestimmung in Bezug auf Anwälte.

Dass eine eigenmächtige Gefährdungsmeldung problematisch ist, sieht man aus einem Urteil des Verwaltungsgerichts vom 24. August 2023 (VB.2022.00461). Das Verwaltungsgericht fasste das Urteil diesbezüglich wie folgt zusammen:

Eine weitere Berufsgeheimnisverletzung wurde der Beschwerdeführerin vorgeworfen, indem sie gegenüber der KESB eine Gefährdungsmeldung bezüglich des Kindes ihrer ehemaligen Klientin machte, ohne sich vorgängig vom Berufsgeheimnis entbunden lassen zu haben. Die Beschwerdeführerin rechtfertigte ihr Vorgehen mit dem damaligen Bestehen einer beträchtlichen Gefährdung des Kindswohls, aufgrund dessen sie gemäss Art. 314c ZGB ein Melderecht gehabt habe (6.4.1-3). Mit der ZGB-Revision vom 15. Dezember 2017 wurden die Vorschriften für Meldungen an die KESB neu geregelt. Ziel der Gesetzesänderung war u.a. die Verbesserung des Schutzes von Kindern, wobei das Melderecht von Personen mit Berufsgeheimnis erleichtert wurde; eine Entbindung vom Berufsgeheimnis ist nicht mehr nötig (E. 6.4.5). In allgemeiner Weise gelten die Prinzipien der Subsidiarität und Verhältnismässigkeit auch unter dem Blickwinkel von Art. 314c Abs. 2 ZGB. Aus dem Gesetzeswortlaut lässt sich ableiten, dass von der dem Berufsgeheimnis unterstehenden Person, bevor sie an die KESB gelangt, eine Interessenabwägung vorzunehmen ist. Die Beschwerdeführerin brachte mehrere Anhaltspunkte vor, welche aus ihrer Sicht dem Kindswohl entgegenstanden. Es ergibt sich aus den Akten genügend, dass sie sich der gesetzlich geforderten Interessenabwägung unterzogen hatte und die Gefährdungsmeldung im Interesse des Kindswohls erstattete. Diese veranlasste die KESB schliesslich zu einem superprovisorischen Entscheid, welchen sie in der Folge zumindest teilweise bestätigte (E. 6.4.6). Die Meldung der Beschwerdeführerin an die KESB stellte somit zwar eine Berufsgeheimnisverletzung dar, war jedoch unter den gegebenen Umständen aufgrund des gesetzlichen Melderechts von Art. 314c ZGB gerechtfertigt (E. 6.4.7). (…)

Im Detail erläuterte das Verwaltungsgericht sein Urteil wie folgt:

6.4.1 Der Beschwerdeführerin wird eine weitere Berufsgeheimnisverletzung vorgeworfen, indem sie gegenüber der KESB B eine Gefährdungsmeldung bezüglich des Kindes ihrer ehemaligen Klientin machte, ohne sich vorgängig vom Berufsgeheimnis entbunden lassen zu haben.

6.4.2 Wie die Beschwerdegegnerin zutreffend erwog, handelte es sich bei der Mitteilung der Kindswohlgefährdung, der vermuteten Handlungsweisen der Klientin und der geltend gemachten potenziellen Entführungsgefahr des Kinds um Wahrnehmungen, welche sie nur aufgrund des Mandats- und Vertrauensverhältnisses zwischen der Beschwerdeführerin und ihrer Klientin machen konnte und welche somit dem Berufsgeheimnis unterlagen.

6.4.3 Die Beschwerdeführerin rechtfertigt ihr Vorgehen mit dem damaligen Bestehen einer beträchtlichen Gefährdung des Kindswohls aufgrund dessen sie gemäss Art. 314c Abs. 2 ZGB ein Melderecht gehabt habe. Dem superprovisorischen Entscheid der KESB B vom 22. Dezember 2020 ist zu entnehmen, dass die ehemalige Rechtsvertreterin der Kindsmutter (die Beschwerdeführerin) am 17. Dezember 2020 die KESB kontaktiert habe. Sie habe von einer Gefährdung des Wohls des betreffenden Kindes, deren Mutter sie vertreten habe, berichtet und daraufhin am 21. Dezember 2020 eine ausführliche schriftliche Mitteilung eingereicht, worin sie berichtet habe, ihr Mandat niedergelegt zu haben. Da ihre ehemalige Klientin keine Fortschritte gemacht habe, sei das Kindswohl gefährdet. Weiter habe sie ausgeführt, dass die Kindsmutter verschiedene Akteure des Unterstützungssystems dazu gebracht habe, der KESB einen positiven Eindruck über ihr Verhalten gegenüber dem Kind zu vermitteln. Ausserdem vermute die Beschwerdeführerin eine Entführungsgefahr ins Ausland, da die Kindsmutter enge Kontakte mit einem Piloten unterhalte, der das Kind ins Ausland bringen könnte. Die KESB erwog, eine erhöhte Entführungsgefahr erscheine zumindest nicht unplausibel, und entschied daraufhin superprovisorisch, dass unbegleitete Kontakte zwischen der Kindsmutter und dem Kind für die Dauer der weiteren Abklärungen gestrichen würden.

6.4.4 Aufgrund der zeitlichen Gegebenheiten vor den Weihnachtsfeiertagen stellte sich die Frage der Dringlichkeit der Meldung: Es ist aufgrund der Vorbringen der Beschwerdeführerin, wonach die Umwandlung der Besuchs- in eine Familienbegleitung unmittelbar nach den Feiertagen hätte in Kraft treten sollen, nachvollziehbar, dass ihrerseits die Befürchtung bestand, die Gefährdungsmeldung könnte die KESB nicht mehr rechtzeitig vor deren Entscheid und vor den feiertagsbedingten Abwesenheiten erreichen.

Der Donnerstag, 17. Dezember 2020 war ein gewöhnlicher Arbeitstag, weshalb davon auszugehen ist, dass in der Kanzlei der Beschwerdegegnerin zumindest jemand telefonisch erreichbar gewesen wäre. Auch wenn die Beschwerdeführerin von Büro-/Behördenschliessungen (insbesondere der KESB) über die Feiertage ausging, wäre ein Ersuchen um Entbindung vom Berufsgeheimnis am Donnerstag in der Woche vor den Weihnachtsfeiertagen grundsätzlich noch zumutbar und zeitlich möglich gewesen. Der Beschwerdeführerin könnte somit vorgeworfen werden, dass sie die Beschwerdegegnerin nicht zumindest informierte bzw. bei dieser am 16. Dezember 2020 darum ersuchte, sie sei bezüglich der Offenlegung dieser Informationen zur Gefährdungsmeldung dringend und vorläufig vom Berufsgeheimnis zu entbinden. Dass die Beschwerdeführerin dies indes nicht tat, scheint auf ihrer Annahme zu fussen, die entbindungslose Offenlegung habe aufgrund des gesetzlich statuierten Melderechts gemäss Art. 314c Abs. 2 ZGB erfolgen dürfen.

6.4.5 Mit der Änderung des Zivilgesetzbuchs vom 15. Dezember 2017 (Kindesschutz) wurden per 1. Januar 2019 die Vorschriften für Meldungen an die KESB neu geregelt (AS 2018 2947). Nach Art. 314c ZBG kann jede Person der Kindesschutzbehörde Meldung erstatten, wenn die körperliche, psychische oder sexuelle Integrität eines Kindes gefährdet erscheint (Abs. 1). Liegt eine Meldung im Interesse des Kindes, so sind auch Personen meldeberechtigt, die dem Berufsgeheimnis nach dem Strafgesetzbuch unterstehen. Diese Bestimmung gilt nicht für die nach dem Strafgesetzbuch an das Berufsgeheimnis gebundenen Hilfspersonen (Abs. 2).

Ziel der Gesetzesänderung war u.a. die Verbesserung des Schutzes von Kindern, wobei das Melderecht von Personen mit Berufsgeheimnis erleichtert wurde. Eine Entbindung vom Berufsgeheimnis ist nicht mehr nötig. Das Melderecht besteht immer dann, wenn die Trägerin oder der Träger des Berufsgeheimnisses über Informationen verfügt, welche das Wohl eines Kindes als gefährdet erscheinen lassen, und die Meldung im Interesse des Kindes liegt (vgl. Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Kindesschutz], BBl 2015 3431, S. 3455). Die Ausweitung des Melderechts für Berufsgeheimnisträger/innen war eine wichtige Neuerung, weil die Entbindung vom Berufsgeheimnis oft (zu) lange dauerte (vgl. Merkblatt der KOKES, Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz, vom März 2019, S. 9, https://www.kokes.ch/de/dokumentation/empfehlungen/melderechte-und-meldepflichten, besucht am 13. Juli 2023).

Die Bestimmung richtet sich spezifisch an Personen, welche dem Berufsgeheimnis nach Art. 321 StGB unterstehen, namentlich auch die dazumal als eingetragene Rechtsanwältin tätige Beschwerdeführerin.

6.4.6 Wie die Beschwerdegegnerin zwar diesbezüglich zutreffend festhielt, kann das Melderecht gemäss Art. 314c ZGB nicht bedeuten, dass „der Anwalt einfach einen Freipass hat, sich nach seinem Gutdünken über das Berufsgeheimnis hinwegzusetzen“. Wie von der Beschwerdegegnerin ebenfalls dargelegt, gelten zwar in allgemeiner Weise die Prinzipien der Subsidiarität und Verhältnismässigkeit auch unter dem Blickwinkel von Art. 314c Abs. 2 ZGB. Aus dem Gesetzeswortlaut, dass die Meldung im Interesse des Kindes zu liegen habe (Art. 314c Abs. 2 ZGB), lässt sich mithin ableiten, dass von der dem Berufsgeheimnis unterstehenden Person, bevor sie an die KESB gelangt, eine Interessenabwägung vorzunehmen ist. In der neueren Lehre wird hierzu ausgeführt, die dem Berufsgeheimnis unterstehende Person habe abzuwägen, ob das Kindswohl bei einer Meldung an die KESB in grössere Gefahr geraten würde als ohne Meldung. Führe die Interessenabwägung nicht zu einem (relativ) eindeutigen Ergebnis, sollte regelmässig nicht mit der Begründung, den weiteren Ablauf abwarten zu wollen, auf eine Meldung an die KESB verzichtet werden. Meldungen an die KESB sollten nicht als ultima ratio angesehen werden (vgl. Gaëlle Droz-Sauthier/Ersilia Gianella, Droits et obligations d’aviser l’autorité de protection de l’enfant, FamPra 2023, S. 647 ff., 666 f.; Luca Maranta, Im „Irrgarten“ zwischen Meldepflichten, Melderechten und Berufsgeheimnissen – die Revision der Meldevorschriften im Kindesschutz, ZKE 4/2018, S. 231 ff., 245).

Die Beschwerdeführerin macht geltend, dass entgegen den Ausführungen der Beschwerdegegnerin eine erhebliche Gefährdung des Kindswohls im Sinn von Art. 314c Abs. 1 ZGB bestanden hätte. Sie brachte in ihrer Gefährdungsmeldung – soweit aus den Akten ersichtlich – mehrere Anhaltspunkte vor, welche aus ihrer Sicht dem Kindswohl entgegenstanden. Dafür, dass die Beschwerdeführerin sich mit ihrer Gefährdungsmeldung unbesehen und ohne Prüfung von Rechtfertigungsgründen über das Berufsgeheimnis hinweggesetzt hätte, liegen deshalb keine konkreten Anhaltspunkte vor. Es ergibt sich aus den Akten genügend, dass sie sich der gesetzlich geforderten Interessenabwägung unterzogen hat und nicht leichtfertig, sondern im Interesse des Kindeswohls die Gefährdungsmeldung erstattete.

Die Gefährdungsmeldung veranlasste die KESB B schliesslich zu einem superprovisorischen Entscheid betreffend Kontaktregelung, da sie eine Gefährdung nicht für unplausibel erachtete. Mit Entscheid vom 19. Januar 2021 bestätigte sie den Entscheid zumindest teilweise. Darin erwog die KESB, ihre Abklärungen hätten ergeben, dass der Besuchsbegleiter des Kindes nicht nur in seiner Rolle die Distanz zum Klienten- und Unterstützungssystem verloren habe, sondern sich auch habe dazu bewegen lassen, mündliche und schriftliche Berichte über den Verlauf der Besuchsbegleitung zu beschönigen und sich dabei sogar zu Absprachen mit der Kanzlei der Beschwerdeführerin habe verleiten lassen. Die Anschuldigungen bezüglich Entführungsgefahr hätten sich indessen nicht belegen lassen.

6.4.7 An Anhaltspunkten zu einer (akuten) Gefährdung des Kindes fehlte es somit entgegen der Beschwerdegegnerin – zumindest im Zeitpunkt der Gefährdungsmeldung – nicht. Im Beschwerdeverfahren reichte die Beschwerdeführerin zudem ein Schreiben ihres Mitarbeiters J, welcher die Kindsmutter während einiger Monate psychologisch betreut habe, betreffend Gefährdungsmeldung ein. Darin werden die Umstände, welche zur Gefährdungsmeldung bei der KESB und der Kontaktierung des Bezirksrats geführt hätten, geschildert. Selbst wenn sich die behauptete Entführungsgefahr nicht erhärtete, kann von einem unbesehenen Hinwegsetzen über das Berufsgeheimnis der Beschwerdeführerin, soweit die beschriebenen Umstände als glaubhaft zu erachten sind, keine Rede sein. Es kann auch aufgrund der Entscheide der KESB davon ausgegangen werden, dass die Gefährdungsmeldung der Beschwerdeführerin im Interesse des Kindes erfolgte.

Die meldende Person muss zudem nicht beweisen, dass eine Person – vorliegend das Kind – tatsächlich gefährdet ist; es reicht, wenn ihres Erachtens möglicherweise eine Gefährdung besteht (KOKES, Merkblatt, S. 3). Mit der Revision der Meldepflichten und -rechte ging zudem die Überlegung einher, dass solche Meldungen nicht erst vorgenommen werden, wenn bereits strafbare Handlungen begangen wurden oder das Kindswohl effektiv schon gefährdet wurde (Botschaft BBl 2015, S. 3449). Die Beurteilung, wie akut die Gefährdung sich tatsächlich erweist und welche Massnahmen zu ergreifen sind, obliegt der KESB. Mit Blick auf die im damaligen Zeitpunkt noch als neu zu bezeichnende Rechtslage nach der ZGB-Revision – deren Kenntnis bei der Beschwerdeführerin als Rechtsanwältin als vorausgesetzt geltend darf – und unter Berücksichtigung, dass die Beschwerdeführerin eine Interessenabwägung vorgenommen zu haben schien, ist ihr zuzubilligen, dass sie von dem in Art. 314c ZGB neu vorgesehenen Melderecht Gebrauch machen durfte. Ihre Meldung an die KESB stellte somit zwar eine Berufsgeheimnisverletzung dar, war jedoch unter den gegebenen Umständen aufgrund des gesetzlichen Melderechts gemäss Art. 314c ZGB gerechtfertigt.

6.4.8 Eine Gefährdungsmeldung gegen den ausdrücklichen Willen der Klientin hätte unweigerlich das Vertrauensverhältnis zwischen Anwältin und Klientin erschüttert, was zwangsläufig zur Mandatsbeendigung geführt hätte. Das Mandat wurde jedoch am 16. Dezember 2020 – und damit noch vor der Gefährdungsmeldung – von der Beschwerdeführerin niedergelegt, weshalb auch aus dieser Sicht kein Anlass zur Annahme von berufsregelwidrigen Verhalten besteht. Dies relativiert auch den im Raum stehenden Vorwurf, dass Handlungen der Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit der noch offenen Honorarforderung von Fr. 36’000.- gegenüber ihrer Klientin gestanden hätten. Es scheint vielmehr glaubhaft, dass die Beschwerdeführerin im Interesse des Kindswohls gehandelt hatte, zumal im Übrigen nicht ersichtlich ist, inwiefern die Gefährdungsmeldung zur Eintreibung eines offenen Honorars beigetragen hätte.en. Diese Bestimmung gilt nicht für die nach dem Strafgesetzbuch an das Berufsgeheimnis gebundenen Hilfspersonen.