Zeitpunkt zur Bezifferung und Begründung von Zivilansprüchen im Strafverfahren

De lege lata:

Bis Ende 2023 gilt Folgendes:

Art. 123 StPO
Bezifferung und Begründung
1 Die in der Zivilklage geltend gemachte Forderung ist nach Möglichkeit in der Erklärung nach Artikel 119 zu beziffern und, unter Angabe der angerufenen Beweismittel, kurz schriftlich zu begründen.
2 Bezifferung und Begründung haben spätestens im Parteivortrag zu erfolgen.

De lege feranda:

Mit der Revision der Strafprozessordnung vom 17. Juni 2022, die per 1. Januar 2024 in Kraft tritt, gilt Folgendes:

Art. 123 Abs. 2 StPO
2 Bezifferung und Begründung haben innert der von der Verfahrensleitung gemäss Artikel 331 Absatz 2 angesetzten Frist zu erfolgen.

Art. 331 StPO
Ansetzen der Hauptverhandlung
1 Die Verfahrensleitung bestimmt, welche Beweise in der Hauptverhandlung erhoben werden. Sie teilt den Parteien mit, in welcher Zusammensetzung das Gericht tagen wird und welche Beweise erhoben werden sollen.
2 Sie setzt den Parteien gleichzeitig Frist, um Beweisanträge zu stellen und zu begründen; dabei macht sie die Parteien auf die möglichen Kosten- und Entschädigungsfolgen verspäteter Beweisanträge aufmerksam. Sie setzt der Privatklägerschaft die gleiche Frist zur Bezifferung und Begründung ihrer Zivilklage.
(…)

Heute beträgt im Kanton Zürich die Frist zur Stellung von Beweisanträgen praxisgemäss 10 Tage. Für die Bezifferung und Begründung der Zivilklage würde folglich die Frist auch 10 Tage betragen.

Der Bundesrat äusserte sich in der Botschaft vom 28. August 2019 folgendermassen:

Nach geltendem Recht kann eine Zivilklage auch erst im Parteivortrag begründet und beziffert werden. Im Gerichtsalltag ergibt sich deshalb nicht selten die Situation, dass eine Zivilklage erst unmittelbar vor oder gar während der Hauptverhandlung beziffert und mit zahlreichen Belegen und umfangreichen Unterlagen begründet wird. Das kann sowohl die beklagte Partei als auch das urteilende Gericht vor Schwierigkeiten stellen, weil sie sich mit einer grossen Zahl von Belegen und komplexen zivilrechtlichen Fragen konfrontiert sehen, deren Prüfung einer gewissen Zeit bedarf.

Die geltende Regelung will die Geltendmachung von Zivilforderungen möglichst einfach gestalten und damit die Stellung der geschädigten Person verbessern. Diese Grundidee erscheint an sich richtig, allerdings erweist es sich als problematisch, wenn der beklagten Partei, also der beschuldigten Person, kaum die Möglichkeit bleibt, auf die Zivilforderung zu reagieren, weil diese erst zu einem späten Zeitpunkt des Verfahrens substantiiert und belegt wird.

Diese Schwierigkeiten liessen sich auf zwei Arten beheben: Entweder durch Ausweitung der Gründe, aus denen eine Zivilklage auf den Zivilweg verwiesen werden darf (vgl. Art. 126 StPO), oder durch Festlegung, dass die Zivilansprüche früher als heute beziffert und begründet werden müssen.

Die erste Möglichkeit vermag nicht zu überzeugen, weil sie die Stellung der geschädigten Person schwächen würde. Die Vorverlegung der Begründung und Bezifferung der Zivilklage dagegen vermag den berechtigten Interessen der Gerichte und der Verteidigung (als beklagter Partei) gerecht zu werden, ohne der Privatklägerschaft unerfüllbare Pflichten aufzuerlegen.

Die Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmenden, welche einer Vorverlegung zustimmten, erachtet den im Vorentwurf vorgeschlagenen Zeitpunkt des Abschlusses der Untersuchung auch mit Blick auf nicht anwaltlich vertretene Geschädigte als zu früh. Deshalb soll die Bezifferung und Begründung erst nach Anklageerhebung erfolgen müssen. Damit ist der letzte Zeitpunkt zur Begründung und Bezifferung zwar relativ spät, aber dennoch früh genug, damit sich das Gericht und die beschuldigte Person hinreichend mit der Zivilklage auseinandersetzen können. Konkret wird eine Änderung von Artikel 331 Absatz 2 StPO vorgeschlagen, wonach die Verfahrensleitung der Privatklägerin die gleiche Frist zur Bezifferung und Begründung ihrer Zivilklage ansetzt, die auch für das Stellen von Beweisanträgen gilt.

Auf einen Vorbehalt der Aktualisierung der Zivilklage zu einem späteren Zeitpunkt wird dagegen verzichtet, weil die Rechtsfolge der ungenügenden Begründung oder Bezifferung nicht der Rechtsverlust ist, sondern die Verweisung auf den Zivilweg. Angesichts dieser milden Folge lässt sich eine gewisse Strenge bei der Frist rechtfertigen.

Es ist verständlich, wenn die Zivilansprüche vor der Hauptverhandlung beziffert und begründet werden müssen. In der Praxis, bei einfach gelagerten Fällen, ist das allerdings schon heute meist der Fall, nämlich mit dem Formular „Geltendmachung von Rechten als Zivilklägerschaft“.

Es ist allerdings nicht nachvollziehbar, warum für das Stellen von Beweisanträgen und für die Bezifferung und Begründung der Zivilklage die gleiche Frist gelten soll.

Nicht selten können zwischen Vorladung und Hauptverhandlung Monate vergehen. Gerade bei komplexen Fällen, wo die Bezifferung und Begründung von Zivilansprüchen auch aufwändiger ist, kann die Hauptverhandlung mehr als sechs Monate nach der Vorladung stattfinden. Das bedeutet, dass Zivilansprüche zu einem sehr frühen Zeitpunkt, also lange vor der Begründung des Plädoyers, beziffert und begründet werden müssen. Das ist völlig übertrieben und nicht geschädigtenfreundlich.

Es wäre sachgerechter, die Fristansetzung dem richterlichen Ermessen zu überlassen. Folglich könnten für die Stellung von Beweisanträgen und für die Bezifferung und Begründung von Zivilansprüchen unterschiedliche Fristen angesetzt werden.

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass es völlig ausreichen würde, wenn das Gericht und die beschuldigte Person bis spätestens 14 Tage vor der Hauptverhandlung von der Bezifferung und Begründung der Zivilansprüche Kenntnis erhalten, zumal es sich nicht um einen normalen Zivilprozess handelt und die Verhältnisse meistens sowieso eher einfach sind. Aufwändigere Zivilansprüche würden ohnehin auf den Zivilweg zu verwiesen (Art. 126 Abs. 3 StPO).

Eine Aktualisierung der Zivilklage an der Hauptverhandlung soll offenbar nicht möglich sein. Das ist jedoch fragwürdig und völlig praxisfremd, da sich der Schaden bis zur Hauptverhandlung vergrössern kann, namentlich in Zusammenhang mit ärztlichen Behandlungen. Es ist nicht geschädigtenfreundlich, wenn die Zivilklage nicht aktualisiert und der Differenzbetrag nur in einem separaten Zivilverfahren geltend gemacht werden kann. Im Übrigen kann in einem ordentlichen Zivilprozess die Klage auch geändert werden, wenn der neue Anspruch mit dem bisherigen Anspruch in einem sachlichen Zusammenhang steht (Art. 227 Abs. 1 Bst. a ZPO). Auch darum ist es unverständlich, warum eine Zivilklage im Strafprozess nicht aktualisiert werden kann.

Nachtrag vom 4.4.2024

Interessant ist zu sehen, wie die Praxis die neuen Gesetzesbestimmungen wirklich anwendet. Es wäre nicht das erste Mal, dass Gerichte gesetzgeberisch verunglückte Bestimmungen aus Praktikabilitätsgründen anders und zwar gegen den klaren Gesetzeswortlaut anwenden.

In folgenden Ausschnitt einer Vorladung sieht man, dass das Bezirksgericht Zürich die Vorgabe der gleichen Frist schlicht ignoriert. Für das Einreichen vom Beweisanträgen wird die übliche (nicht erstreckbare) Frist von 10 Tagen angesetzt. Für die Bezifferung und Begründung von Zivilansprüchen wird dagegen eine Frist von 60 Tagen angesetzt. In casu endet die Frist ca. einen Monat vor der Hauptverhandlung. Da hier nicht ausdrücklich erwähnt wird, dass die Frist nicht erstreckbar ist, ist eine Fristerstreckung wohl noch möglich.

Wie das Bezirksgericht Zürich die neuen Gesetzesbestimmungen anwendet, ist aus praktischen Gründen die einzig richtige Lösung.