Art. 148a StGB
1 Wer jemanden durch unwahre oder unvollständige Angaben, durch Verschweigen von Tatsachen oder in anderer Weise irreführt oder in einem Irrtum bestärkt, sodass er oder ein anderer Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe bezieht, die ihm oder dem andern nicht zustehen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft.
2 In leichten Fällen ist die Strafe Busse.
Art. 148a Abs. 1 StGB ist ein Vergehen (Art. 10 Abs. 3 StGB). Art. 148a Abs. 2 StGB ist dagegen nur eine Übertretung (Art. 103 StGB). Diese Unterscheidung manifestiert sich in der Strafandrohung. Noch wichtiger ist jedoch, dass eine Verurteilung wegen Art. 148a Abs. 1 StGB eine obligatorische Landesverweisung nach sich zieht (Art. 66a Abs. 1 Bst. e StGB). Deshalb stellt sich die Frage, was unter einem leichten Fall zu verstehen ist, zumal eine gesetzliche Definition fehlt.
Das Bundesgericht definierte in BGE vom 27. April 2023 (6B_1108/2021) in Bezug auf den leichten Fall Schwellenwerte: Bei einem Deliktsbetrag von weniger als 3‘000 Fr. liegt immer ein leichter Fall vor. Bei einem Deliktsbetrag zwischen 3‘000 Fr. und 36‘000 Fr. ist eine vertiefte Prüfung notwendig. Bei einem Deliktsbetrag ab 36‘000 Fr. liegt grundsätzlich kein leichter Fall mehr vor, ausser bei ausserordentlichen Umständen.
1.5.9. In der Kürze lässt sich das Gesagte wie folgt zusammenfassen: Bei Deliktsbeträgen unter Fr. 3’000.− ist stets von einem leichten Fall des unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe auszugehen. Im mittleren Bereich von Fr. 3’000.− bis Fr. 35’999.99 ist anhand der gesamten Tatumstände zu prüfen, ob das Verschulden der Täterschaft soweit vermindert ist, dass sich die Annahme eines leichten Falls nach Art. 148a Abs. 2 StGB rechtfertigt. Bei Deliktsbeträgen ab Fr. 36’000.− scheidet die Bejahung eines leichten Falls grundsätzlich aus, ausser es liegen im Sinne einer Ausnahme ausserordentliche, besonders gewichtige Umstände vor, die eine massive Verminderung des Verschuldens bewirken.
1.5.5. In einem ersten Schritt ist eine untere Mindestgrenze zu bestimmen, deren Unterschreitung von vornherein die Annahme eines leichten Falls bewirkt. Bagatellfälle werden so prinzipiell von der Anwendung des Grundtatbestands ausgeklammert und können als Übertretungen geahndet werden. Damit ist namentlich die Anordnung einer Landesverweisung − für die Betroffenen nicht selten die einschneidendste Konsequenz ihres strafbaren Verhaltens − ausgeschlossen (Art. 105 Abs. 1 StGB sowie Art. 66a Abs. 1 lit. e und Art. 66a bis StGB e contrario; für weitere Unterschiede zwischen Übertretungen und Vergehen siehe BGE 147 IV 471 E. 5.2.1 ff.). Dies scheint sachgerecht, denn von Verfassungs wegen ist die Landesverweisung nur für relativ schwere Straftaten vorgesehen (Art. 121 Abs. 3 lit. a BV nennt als Anlasstaten − teils in Abweichungen von den Begrifflichkeiten des schweizerischen Strafrechts − vorsätzliche Tötungsdelikte, Vergewaltigung oder andere schwere Sexualdelikte, andere Gewaltdelikte wie Raub, Menschenhandel, Drogenhandel oder Einbruchdiebstahl). Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass im Einzelfall auch eine Bagatelle eine Landesverweisung zur Folge haben kann. Dennoch enthält der gestützt auf Art. 121 Abs. 4 BV erarbeitete Deliktskatalog von Art. 66a Abs. 1 StGB im Grundsatz schwere Straftaten (vgl. BGE 145 IV 404 E. 1.5.3; Urteil 6B_1424/2019 vom 15. September 2020 E. 2.4.2; je mit Hinweis). Die Definition einer Erheblichkeitsschwelle, die eine klare Grenze zwischen Übertretung und Vergehen zieht, dient somit dem Verhältnismässigkeitsprinzip. Gleichzeitig hat sie die praktische Konsequenz, dass diese, allein aufgrund ihres Deliktsbetrags als geringfügig einzuordnenden Fälle unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe mittels Strafbefehl erledigt werden können. Es muss folglich nicht aufgrund der drohenden Landesverweisung Anklage erhoben werden (Art. 352 Abs. 2 StPO e contrario), sondern die Verfehlung kann, sofern keine Einsprache erhoben wird, in einem vereinfachten Verfahren durch die Staatsanwaltschaft effizient erledigt werden.
Zur Klärung der Frage, wie hoch der untere Schwellenwert sein soll, liefert die Schweizerische Lohnstrukturerhebung 2020 gewisse Anhaltspunkte. Demgemäss belief sich der Medianlohn einer Vollzeitstelle in der Schweizer Gesamtwirtschaft im Jahr 2020 auf Fr. 6’665.− brutto (Medienmitteilung des Bundesamts für Statistik vom 28. März 2022). Bei den Männern waren monatliche Nettolöhne von Fr. 5’001.− bis Fr. 6’000.− am häufigsten (19,8 % der Befragten), bei den Frauen monatliche Nettolöhne von Fr. 4’001.− bis Fr. 5’000.− (17,4 % der Befragten; vgl. Häufigkeitsverteilung der Arbeitnehmenden nach Lohnhöhenklassen, <https://www.bfs.admin.ch>, unter Statistiken finden/Arbeit und Erwerb/Löhne, Erwerbseinkommen und Arbeitskosten/Lohnniveau Schweiz/Verteilung der Nettolöhne, besucht am 6. März 2023). Der von der SSK vorgeschlagene und in der Literatur wiederholt aufgegriffene Betrag von Fr. 3’000.− beträgt somit mehr als die Hälfte dessen, was der höchste Prozentsatz der Arbeitnehmenden in der Schweiz monatlich (netto) verdient. Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die bisherige Rechtsprechung (siehe E. 1.4 oben) ist eine untere Erheblichkeitsschwelle von Fr. 3’000.− angemessen. Liegt der Deliktsbetrag unterhalb dieser Grenze, ist immer von einem leichten Fall auszugehen.
1.5.6. In einem weiteren Schritt ist eine Obergrenze zu bestimmen, deren Überschreitung einen leichten Fall grundsätzlich ausschliesst. Die Anwendung von Art. 148a Abs. 2 StGB ist mit anderen Worten nach unten abzugrenzen. Auf diese Weise wird insbesondere dem Umstand Rechnung getragen, dass der Verfassungs- (Art. 121 Abs. 3 lit. b BV) und der Gesetzgeber den Sozialhilfe- respektive Sozialversicherungsbetrug im Hinblick auf die Bedeutung der entsprechenden Einrichtungen für das wirtschaftliche und soziale Leben in der Schweiz als besonders verwerflich werten (Urteile 2C_658/2021 vom 3. März 2022 E. 4.2.2 mit Hinweisen; 2C_822/2016 vom 31. Januar 2017 E. 3.3.1). Wiederum ausgehend vom Medianlohn von Fr. 6’665.− brutto (siehe E. 1.5.5 oben) scheint es angemessen, die obere Schwelle bei Fr. 36’000.− anzusetzen, was in etwa sechs Monatslöhnen einer vollzeitig erwerbstätigen Person entspricht. Diese Obergrenze schafft dahingehend eine Abgrenzung, als bei einer Deliktssumme über diesem Betrag im Regelfall kein leichter Fall mehr gegeben ist. Um einen solchen bei Überschreiten des Schwellenwerts dennoch anzunehmen, bedarf es offenkundiger, ausserordentlicher und gewichtiger Umstände, die das Verschulden massiv mindern. Die Bejahung eines leichten Falls stellt diesfalls eindeutig eine Ausnahme dar, die nur in Betracht kommt, wenn die Anwendung des Grundtatbestands dem Gerechtigkeitsempfinden in eklatanter Weise entgegensteht. Zu denken ist beispielsweise an eine beschuldigte Person, welche die Tat in einem Zustand sehr stark verminderter Schuldfähigkeit begangen hat.
1.5.7. Im Bereich dazwischen, das heisst bei Deliktsbeträgen von Fr. 3’000.− bis Fr. 35’999.99, ist eine vertieftere Prüfung erforderlich. Die Beurteilung, ob ein leichter Fall im Sinne von Art. 148a Abs. 2 StGB vorliegt, erfolgt dabei ähnlich wie beim Überschreiten des oberen Schwellenwerts entsprechend dem Verschulden des Täters oder der Täterin. Sie hat jedoch differenzierter auszufallen, sodass der Grundgedanke der Botschaft und die bisherige Rechtsprechung (vgl. E. 1.4 oben) zur Umsetzung gelangen. Demgemäss kann das Verschulden etwa dann leichter ausfallen, wenn die Dauer des unrechtmässigen Leistungsbezugs kurz war, das Verhalten der Täterschaft nur eine geringe kriminelle Energie offenbart oder ihre Beweggründe und Ziele nachvollziehbar sind. Nach Art. 47 Abs. 1 und 2 StGB sind die gesamten Tatumstände (sog. Tatkomponenten) zu berücksichtigen, namentlich die Art und Weise der Herbeiführung des verschuldeten Erfolgs und die Verwerflichkeit des Handelns (Urteile 6B_104/2022 vom 8. Februar 2023 E. 2.1.4; 6B_1400/2021 vom 20. Dezember 2022 E. 4.2; 6B_773/2021 vom 5. Oktober 2022 E. 2.2; 6B_797/2021 vom 20. Juli 2022 E. 2.2; je mit Hinweisen). Insbesondere kann auch eine Tatbegehung durch reines Verschweigen verbesserter wirtschaftlicher Verhältnisse und somit durch Unterlassen für einen leichten Fall sprechen (vgl. Urteil 6B_1246/2020 vom 16. Juli 2021 E. 4.4; FIOLKA/ VETTERLI, a.a.O., S. 94). Nicht in die Beurteilung miteinzubeziehen sind dagegen die Täterkomponenten (Urteil 6B_773/2021 vom 5. Oktober 2022 E. 2.3; VISCHER, a.a.O., S. 216). Demnach ist bei einem Deliktsbetrag aus dem Mittelbereich anhand sämtlicher für das Tatverschulden massgeblicher Kriterien zu beurteilen, ob sich das Verschulden relativiert. Liegen nennenswerte verschuldensmindernde Umstände vor, ist ein leichter Fall gegeben.
1.5.8. Anzumerken bleibt, dass der Tatbestand des unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe als Auffangtatbestand zum Betrug (Art. 146 StGB) ausgestaltet ist. Art. 148a StGB wird im Bereich des unrechtmässigen Bezugs von Sozialleistungen anwendbar, wenn das Betrugsmerkmal der Arglist nicht gegeben ist (Urteile 6B_104/2022 vom 8. Februar 2022 E. 2.1.2; 6B_797/2021 vom 20. Juli 2022 E. 2.1.1; 6B_1246/2020 vom 16. Juli 2021 E. 3.4; je mit Hinweisen). Handelte der Täter oder die Täterin arglistig, sind demzufolge in jedem Fall, unabhängig vom Deliktsbetrag, der Tatbestand des Betrugs und, sofern dieser tatsächlich erfüllt ist, die Voraussetzungen der Landesverweisung (vgl. Art. 66a Abs. 1 lit. e StGB) zu prüfen.