Wenn Gemeinden die KESB sabotieren

Die KESB hat die Aufgabe, über Kindesschutzmassnahmen zu entscheiden. Für die Kosten kommt jedoch nicht die KESB selbst auf. Primär müssen die Kindeseltern für die Kosten aufkommen (Art. 276 Abs. 2 ZGB). Da jedoch häufig die Eltern dazu nicht in der Lage sind, muss die Wohnsitzgemeinde die Kosten zunächst übernehmen (§ 22 Abs. 1 EG KESR). Sollten die Eltern jedoch später in günstigere wirtschaftliche Verhältnisse kommen, was jedoch eher selten der Fall ist, können sie zur Nachzahlung verpflichtet werden (§ 22 Abs. 2 EG KESR).

Bereits im Jahr 2009 hat das Bundesgericht (BGE 135 V 134) Folgendes entschieden:

Die Sozialhilfebehörde ist an den (bundesrechtskonform gefällten) Entscheid der zuständigen Vormundschaftsbehörde zur Unterbringung eines unmündigen Kindes in einem Heim gebunden. Sie kann gestützt auf kantonalrechtliche Sozialhilfebestimmungen die Übernahme der Kosten der angeordneten Massnahme nicht verweigern (E. 3 und 4).

Leider versuchen auch heute noch Gemeinden, sich um die Kosten von KESB-Massnahmen zu drücken. Einen einschlägigen Ruf hat sich dabei die Stadt Dübendorf erworben. Dübendorf praktiziert aus politischen Gründen eine schikanöse Zermürbungstaktik, um Gesuchsteller abzuhalten, ihre gesetzlichen Ansprüche geltend zu machen. Im folgenden Fall musste eine Kindesschutzmassnahme sogar abgebrochen werden, weil Dübendorf die Übernahme der Kosten verweigert hatte. Vorliegend ist das Verhalten von Dübendorf auch darum völlig unverständlich, da die KESB Dübendorf selbst Teil der Stadtverwaltung ist.

Das Bundesgericht ging im Urteil vom 19. Juni 2018 (8C_25/2018) von folgendem Sachverhalt aus:

A. Die Familie A. liess am 28. April 2014 durch den sie damals noch auf freiwilliger Basis betreuenden E. (Kinder- und Jugendhilfezentrum) die Sozialbehörde der Stadt Dübendorf (nachfolgend: Sozialbehörde) darum ersuchen, ihre beiden Kinder A.A. und B.A. bis auf Widerruf ausserfamiliär im Hort F. ganztägig und inklusive Ferienhort zu betreuen und dafür eine subsidiäre Kostengutsprache zu gewähren. Ab Juni 2014 besuchten die beiden Kinder den Hort F.. Mit Beschluss vom 29. Juli 2014 ordnete die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (nachfolgend: KESB), bei der Ende März 2014 eine Gefährdungsmeldung seitens der Schule eingegangen war, eine vorsorgliche Beistandschaft über die beiden Kinder an; zudem beauftragte sie E., nunmehr als Beistand, die Hortbetreuung der Kinder zu organisieren, zu begleiten und für ihre Finanzierung zu sorgen. Gleichzeitig ersuchte die KESB ihrerseits die Sozialbehörde, eine entsprechende subsidiäre Kostengutsprache zu erteilen.

Nach zunächst formloser Ablehnung wies die Sozialbehörde den am 27. August 2014 erneuerten Antrag auf subsidiäre Kostengutsprache mit Beschluss vom 9. Dezember 2014 ab. Sie begründete dies damit, die Familie A. könne selber für die Hortkosten aufkommen, da ihr mit den Zusatzleistungen zur IV-Rente des Vaters bereits Fremdbetreuungskosten angerechnet würden. In der Folge kündigte Vater D.A. den Hortplatz der Kinder per Ende 2014, da er das Geld dafür nicht aufzubringen vermöge. Die KESB setzte Rechtsanwältin N.C. als Beiständin der Kinder ein und beauftragte sie, gegen die ablehnende Verfügung vom 9. Dezember 2014 zu rekurrieren. In diesem Sinne beantragte sie namens A.A. und B.A. unter anderem die Erteilung der subsidiären Kostengutsprache rückwirkend ab Beginn der Massnahme sowie die subsidiäre vollumfängliche Übernahme der diesbezüglich aufgelaufenen und zukünftigen Kosten. (…)

Das Bundesgericht entschied, dass Dübendorf die Kosten sofort hätte vorläufig übernehmen müssen:

4.1. Nach Art. 11 Abs. 1 BV haben Kinder und Jugendliche Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung. Mit Art. 11 BV geniesst das Kindeswohl Verfassungsrang und gilt in der Schweiz als oberste Maxime des Kindesrechts in einem umfassenden Sinn (Ruth Reusser/Kurt Lüscher, Ehrenzeller/Schindler/Schweizer/Vallender [Hrsg.], Die schweizerische Bundesverfassung, 3. Aufl. 2014, N. 8 zu Art. 11 BV mit Verweis auf BGE 132 III 359 E. 4.4.2 S. 373; vgl. auch Giovanni Biaggini, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl. 2017, N. 3 zu Art. 11 BV; BGE 142 III 481 E. 2.6 S. 491). Das Kindeswohl ist ein offener Begriff, der im Einzelfall konkretisiert werden muss (Reusser/Lüscher, a.a.O., N. 8 zu Art. 11 BV). Zwar wird mit Art. 11 Abs. 1 BV kein klagbares subjektives Recht geschaffen, jedoch wird der Kindesschutz mit der Verankerung als Grundrecht verfassungsrechtlich zu einem umfassenden und vordringlichen Anliegen erklärt und der Gesetzgeber ist gehalten, beim Erlass von privat- oder öffentlichrechtlichen Rechtssätzen auf die Interessen der Kinder und Jugendlichen besondere Rücksicht zu nehmen (Reusser/Lüscher, a.a.O., N. 10 zu Art. 11 BV; vgl. auch Biaggini, a.a.O., N. 4 f. zu Art. 11 BV). Anders als die Sozialziele in Art. 41 BV richtet sich Art. 11 Abs. 1 BV aber auch an die rechtsanwendenden Behörden und verpflichtet sie, bei der Interpretation und Anwendung von Rechtssätzen den besonderen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen Rechnung zu tragen (Reusser/Lüscher, a.a.O., N. 10 zu Art. 11 BV; vgl. auch Biaggini, a.a.O., N. 4 zu Art. 11 BV und Axel Tschentscher, Waldmann/Belser/Epiney [Hrsg.], Bundesverfassung, 2015, N. 16 und 21 zu Art. 11 BV). Dieser Schutzauftrag wird etwa im Rahmen des zivilrechtlichen Kindesschutzes konkretisiert (Art. 307 ff. ZGB; Reusser/Lüscher, a.a.O., N. 16 zu Art. 11 BV).

Ist das Kindeswohl gefährdet, weil die Eltern nicht willens oder in der Lage sind, die Verantwortung für ihr Kind zu übernehmen, werden von der KESB geeignete Massnahmen getroffen (Peter Breitschmid, Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch I, 5. Aufl. 2014, N. 1 zu Art. 307 ZGB). Kindesschutz soll rasch, nachhaltig und fachlich korrekt, mit minimalem Eingriff in Elternrechte und Familienstruktur erfolgen; die Anordnung einer Massnahme setzt kein Verschulden voraus und ist auch keine Sanktion, sondern hat zum Ziel, trotz Gefährdungslage das Kindeswohl zu bewahren oder wiederherzustellen (Breitschmid, a.a.O., N. 4 zu Art. 307 ZGB; vgl. zum Verhältnis Kindeswohl und Eingriff der KESB zur Abwendung einer Gefährdung auch Christoph Häfeli, Grundriss zum Kindes- und Erwachsenenschutz, 2. Aufl. 2016, Rz. 40.03 ff.). Wo Beratung, Mahnung und Weisung nach Art. 307 ZGB als mildeste Massnahme nicht ausreichen, sind stärker eingreifendere Massnahmen (hier: Bestellung eines Beistandes nach Art. 308 Abs. 2 ZGB mit der Aufgabe, die Hortplatzierung zu organisieren und deren Finanzierung zu sichern) nach Art. 308 ff. ZGB anzuordnen (Breitschmid, a.a.O., N. 2 zu Art. 307 ZGB).

4.2. Nach BGE 135 V 134 ist die Sozialhilfebehörde an einen (bundesrechtskonform gefällten) Entscheid der zuständigen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde gebunden; sie kann gestützt auf kantonale Sozialhilfebestimmungen die Übernahme der Kosten der angeordneten Massnahme nicht verweigern. In diesem Fall hatte die zuständige Sozialhilfebehörde die Übernahme der Heimkosten abgelehnt, weil das Gesuch um Kostengutsprache im Sinne von § 19 Abs. 3 und § 20 Abs. 1 der Verordnung des Kantons Zürich zum Sozialhilfegesetz vom 21. Oktober 1981 (SHV; LS 851.11) verspätet eingereicht worden sei. Dazu hielt das Bundesgericht fest, dass es unter den gegebenen Umständen keiner vorgängigen Kostengutsprache seitens der Sozialhilfebehörde bedurfte, da kantonale Verfahrensbestimmungen infolge der derogatorischen Kraft des Bundesrechts (Art. 49 Abs. 1 BV) nicht dazu führen dürfen, dass die Umsetzung oder Durchführung von Bundesrecht verhindert oder übermässig erschwert wird (BGE 135 V 134 E. 4.5 S. 140).

4.3. Gemäss Ziff. 2.1 des Kapitels 8.1.10 Kosten für ambulante Kindesschutzmassnahmen des Sozialhilfe-Behördenhandbuchs des Kantons Zürich (Neuauflage 2012; nachfolgend: Behördenhandbuch) prüft die KESB bei Anordnung einer Kindesschutzmassnahme neben deren Notwendigkeit und Verhältnismässigkeit auch die Angemessenheit der Kostenfolgen. Soweit im konkreten Fall keine anderweitige Anordnung bestehe, gingen die Kosten der angeordneten Massnahme zu Lasten der Eltern (Art. 276 Abs. 1 ZGB). Seien diese nicht in der Lage, für die betreffenden Kosten aufzukommen, müsse die Sozialbehörde am Unterstützungswohnsitz der Eltern Kostengutsprache leisten und die Kosten der Massnahme als situationsbedingte Leistung übernehmen. Sei die Bedürftigkeit der Eltern nicht ausgewiesen, erteile die Sozialbehörde subsidiäre Kostengutsprache. Voraussetzung für die tatsächliche Kostenübernahme sei in diesem Fall der Nachweis, dass die Kosten nicht anderweitig gedeckt werden könnten, d.h. die Sozialbehörden begleiche die Kosten erst, wenn der Nachweis der Uneinbringlichkeit der Forderung erbracht sei.

4.4. Über das vom (späteren) Beistand gestellte Gesuch vom 28. April 2014 um Übernahme dieser Hortkosten (erneuert mit Gesuch vom 27. August 2014) entschied die Sozialbehörde mit Verfügung vom 9. Dezember 2014. Dabei lehnte sie eine subsidiäre Kostengutsprache für die Kosten der von der zuständigen KESB nach Art. 308 Abs. 2 ZGB angeordneten ausserschulischen Betreuung im Hort F. ab, da diese von den Eltern mangels ausgewiesener Bedürftigkeit zu übernehmen seien. In der Folge kündigte der Vater der beiden Beschwerdeführer die Hortbetreuung mangels finanzieller Ressourcen.

4.5. Das Vorgehen der Sozialbehörde entsprach den Vorgaben im Behördenhandbuch gemäss E. 4.3. Die im konkreten Fall von der Sozialbehörde verursachte Verzögerung von mehreren Monaten führte letztlich dazu, dass den Beschwerdeführern die notwendige Betreuung im Hort nicht zukam. Somit steht diese kantonale Praxis, welche die Durchführung eines zeitraubenden Mahnungs- und Betreibungsverfahrens voraussetzt, in Widerspruch zur in der Regel notwendigen sofortigen Durchführung der Kindesschutzmassnahme (vgl. dazu auch die vom Beistand aufgezeigte Dringlichkeit im [zweiten] Gesuch vom 27. August 2014) und verunmöglicht so die angemessene, dem bundesrechtlich geschützten Kindeswohl (vgl. E. 4.1) entsprechende Umsetzung der angeordneten KESB-Massnahme. Das Behördenhandbuch hält denn auch in Ziff. 2.2 zum Kapitel 8.1.10 einleitend fest, Massnahmen zum Schutz von Kindern seien möglichst rasch umzusetzen und dürften insbesondere nicht durch allfällige Konflikte über die Zuständigkeit der Kostenübernahme verzögert werden. Vorliegend ist ein mit jenem in BGE 135 V 134 vergleichbarer Sachverhalt insofern gegeben, als hier ebenfalls die Einhaltung einer Verfahrensvorschrift (Durchführung eines Mahnungs- und Betreibungsverfahrens) eine rasche Umsetzung der bundesrechtlich angeordneten KESB-Massnahme verhindert oder zumindest über Gebühr verzögert. Unter Beachtung der im Kern bereits in BGE 135 V 134 angelegten Vorgaben wäre die Sozialbehörde demnach gehalten gewesen, die Umsetzung der KESB-Massnahme durch vorläufige Übernahme der anfallenden Kosten sicherzustellen. In einem zweiten Schritt hätte sie dann überprüfen können, ob die entsprechenden Kosten nicht durch Dritte oder die Eltern zurückzuerstatten wären. Insofern verletzt der vorinstanzliche Entscheid Bundesrecht. Die Sache ist unter den gegebenen Umständen unter Aufhebung des vorinstanzlichen und des bezirksrätlichen Entscheids sowie der Verfügung vom 9. Dezember 2014 an die Sozialbehörde zurückzuweisen, damit sie nach Begleichung der Hortkosten über eine allfällige Rückerstattung der Kosten durch die Eltern unter rechtskonformer Ermittlung der sozialhilferechtlichen Bedürftigkeit (vgl. nachfolgend E. 5) entscheide.

Das kantonale Sozialamt hat auf dieses Urteil reagiert und das Sozialhilfe- Behördenhandbuch entsprechend angepasst:

8.1.10. Kosten für ambulante Kindesschutzmassnahmen
(…)
2.1. Kostentragung
(…) Ist nicht klar, dass die Eltern bereit oder in der Lage sind, die für eine ambulante Kindesschutzmassnahme anfallenden Kosten zu übernehmen, hat die Sozialbehörde daher direkte Kostengutsprache im Sinne einer vorläufigen Kostenübernahme zu leisten, um die rasche und effiziente Durchführung der angeordneten Kindesschutzmassnahme nicht zu gefährden (Urteil BGer 8C_25/2018 vom 19. Juni 2018, E. 4 m.w.H.). (…)

Dieser Fall zeigt beispielhaft auf, dass Kindesschutzmassnahmen teilweise sehr hohe Kosten verursachen können, für welche in der Regel die Wohnsitzgemeinden aufkommen müssen. Dass Kindesschutzmassnahmen teuer sind, daran kann grundsätzlich nichts geändert werden. Ein Verzicht auf Kindesschutzmassnahmen wäre gleichbedeutend mit einer Gefährdung des Kindeswohls. Stattdessen müssen die entsprechenden Kosten gerechter verteilt werden. Es ist stossend, wenn eine Gemeinde nur darum für teilweise exorbitante Kosten aufkommen muss, weil die betroffene Person dort wohnt. Folglich sollten die Kosten für teure Kindesschutzmassnahmen kantonalisiert werden oder der Kanton sollte finanzielle Abgeltungen für die Gemeinden sprechen. Im Kanton Bern werden zum Beispiel die Kosten der Gemeinden durch den Kanton mit Fallpauschalen abgegolten. Die Kantone sind somit aufgefordert, für eine gerechte Verteilung der Kosten von teuren Kindesschutzmassnahmen zu sorgen.