Bereits in einem Beschluss vom 1. März 2013 kritisierte das Obergericht die Post wegen mangelhafter Empfangsscheine.
Im aktuellen Fall beschwerte sich ein Anwalt, nachdem ihm die Akten vom Gericht zurückgesandt worden sind, dass ihm das Urteil gar nicht zugestellt worden sei. Ihm sei keine Abholungseinladung ins Postfach gelegt worden, weshalb er nichts vom Urteil gewusst und dieses folglich auch nicht in Empfang nehmen konnte.
Das Obergericht stellte seinem Urteil vom 6. Februar 2017 (NP160032) folgenden Leitsatz voran:
Art. 138 Abs. 3 lit. a ZPO, Zugang der Abholungseinladung. Dass die Abholungseinladung richtig hinterlassen worden sei, ist eine nur schwache Vermutung, die in Würdigung aller Umstände erschüttert werden kann; dann geht die Beweislosigkeit zulasten des Gerichts, welches die Zustellung beweisen muss.
Das Obergericht führte insbesondere Folgendes aus:
2.2 Die Beklagte stand in einem Prozess, und sie und ihr Anwalt mussten mit Zustellungen in dieser Sache rechnen. Wenn das Büro R. Rechtsanwälte die Abholungseinladung für die Sendung mit dem Urteil erhalten hat, trat mit Ablauf der siebentägigen Abholfrist die Zustellfiktion ein (Art. 139 Abs. 3 lit. a ZPO). Das ist nicht streitig. Umstritten ist, ob der Zugang der Abholungseinladung erstellt sei. Nach einer allgemeinen Regel muss das Gericht den Beweis für seine Zustellungen sicherstellen. Das geschieht, indem es seine Sendungen eingeschrieben verschickt, denn dann muss der Empfänger unterschriftlich quittieren. Früher geschah das im Zustellbüchlein des Postboten, heute wird die Unterschrift auf einem elektronischen Kästchen angebracht, von wo die Quittung auf Papier ausgedruckt oder aber auch elektronisch übermittelt werden kann. Der wichtigste Schwachpunkt dieses Vorgehens ist der Zugang der Abholungseinladung, wenn der Empfänger vom Zustellboten nicht angetroffen wird, oder wenn der Empfänger ein Postfach unterhält. Aus praktischen Gründen wird das richtige Hinterlassen dieses Papiers vermutet (BGer 5A_98/2011 vom 3. März 2011), allerdings kann diese Vermutung erschüttert werden, worüber in Würdigung aller Umstände zu entscheiden ist. Wenn der Einwand, man habe keine Abholungseinladung erhalten, von vornherein als „Ausrede“ qualifiziert wird (KuKo ZPO-Weber, 2. Aufl., Art. 138 N 9 S. 696 oben), ist das doch sehr pragmatisch und eher am Ergebnis orientiert. Es kann der Eindruck entstehen, der Einwand werde nicht ernst genommen, und das wäre verfehlt. Die Überlegung des Bundesgerichts, der irrtümliche Empfänger einer Abholungseinladung gebe diese dem richtigen Adressaten weiter oder sende sie gar der Post zurück, kann zutreffen, muss es aber nicht. Sie wird denn auch kritisiert (BSK ZPO-Gschwend/Bornatico, 2. Aufl., Art. 138 N 18; BK ZPO-Frei, Art. 138 N 29). Diese Kritik ist berechtigt, und zwar auch ohne dass man der Post grundsätzlich schlechte Arbeit unterstellen muss. Es ist eine Erfahrungstatsache, dass die Mitarbeitenden der Post zunehmend unter Zeit- und Effi-zienz-Druck arbeiten müssen, was – nicht weiter erstaunlich – immer wieder zu Fehlern führt. Die Gerichte erfahren das etwa in ihrer alltäglichen Praxis, wenn Sendungen retourniert werden: nicht selten finden sich auf solchen Umschlägen offenkundig falsche Aufkleber; immer wieder wird die den Empfang quittierende Person mit einer unrichtigen Bezeichnung angegeben (etwa „Empfänger persönlich“ statt „Vertreter“ und umgekehrt), und auch in den privaten Briefkästen finden sich mitunter Irrläufer. Wie häufig Irrtümer vorkommen, ist statistisch wohl nicht erfasst. Diese Möglichkeit als „rein theoretisch“ abzutun und dem Privaten damit von vorneherein faktisch die Einwendung abzuschneiden, in seinem Fall müsse ein Versehen passiert sein, wäre aber jedenfalls zu streng. Es bleibt daher nur, im Einzelfall die Bestreitung des Adressaten zu würdigen und auf ihre Plausibilität hin zu prüfen (OGerZH NP150016 vom 29. Juli 2015). Dabei ist wesentlich, dass dem Adressaten wenn auch nicht das Beweisen, so doch das Plausibel-Machen eines negativen Umstandes zugemutet wird, was streng genommen gar nicht möglich ist.
Die Assistentin E. des Büros R. Rechtsanwälte schildert den üblichen Ablauf so: sie leere das Postfach und prüfe die Papiere auf Abholungseinladungen; wenn sie eine solche vorfinde, werde die Sendung umgehend am Schalter abgeholt. Am Freitag 1. April 2016, als sie statt ihrer Kollegin B. den Postdienst versah, habe sie keinen solchen Zettel vorgefunden. Der 1. April 2016 ist der Tag, an welchem gemäss Bestätigung der Post die Sendung mit dem angefochtenen Urteil avisiert wurde. Ob das Anwaltsbüro R. auch am 22. März 2016 eine Abholungseinladung nicht erhielt und ob mitunter Sendungen für andere Adressaten irrtümlich in sein Postfach gelangen, muss und kann offen bleiben. Ebenso ist nicht näher zu prüfen, ob um die in diesem Verfahren fragliche Zeit auf der Post Zürich-… personelle Wechsel erfolgten. Dem Kläger ist auch darin Recht zu geben, als eine Abholungseinladung zwischen anderen Sendungen liegend übersehen werden und dann verloren gehen kann. Das ändert allerdings nichts daran, dass eben auch Fehler beim Hinterlassen der Abholungseinladungen möglich sind. Die Post bestätigte nicht, wann wer unter welchen Umständen die fragliche Sendung avisiert hat, sondern sie stützte sich offenkundig auf die elektronischen Aufzeichnungen über den Ablauf der Zustellung resp. des Zustellversuches. Damit muss ihr keineswegs eine bewusste Unwahrheit unterstellt werden, wie der Kläger argumentiert. Ebenso wenig darf allerdings dem Vertreter der Beklagten und seiner Assistentin unlautere Absicht unterstellt werden. Der Kläger behauptet nicht und es ist keineswegs gerichtsnotorisch, dass das Anwaltsbüro R. aufgrund früherer Vorfälle im Verdacht stehe, den Zugang von Gerichtsurkunden resp. die Abholungseinladungen dafür wider besseres Wissen zu bestreiten. Am Ende bleibt nur die Feststellung, dass im vorliegenden konkreten Fall ein Irrtum der Post beim Ablegen der Abholungseinladung mindestens möglich ist (was der Kläger indirekt auch einräumt). Das genügt, um die Vermutung der einwandfreien Zustellung zu erschüttern.
Die Fiktion der Zustellung des angefochtenen Urteils durch Ablauf der siebentägigen Abholfrist greift daher nicht.
In der Sihlpost besteht die Praxis, dass Einschreiben zunächst mit einem feuerroten Zettel angezeigt werden. Wird das Einschreiben nicht am selben Tag abgeholt, stellt die Post eine ordentliche Abholungseinladung aus und legt diese ins Postfach. Auch ich habe schon in unserem Postfach zumindest einmal eine Abholungseinladung gefunden, die für eine andere Person bestimmt gewesen ist. Darum erstaunt es mich überhaupt nicht, wenn im vorliegenden Fall die Zustellung nicht geklappt hat. Die Kritik des Obergerichts an der Post ist gerechtfertigt.